Traumatisiert?

traumatisiert
Traumatisiert oder nicht? Woher soll man wissen, ob man in seinem bisherigen Leben eine Traumatisierung erfahren hat oder nicht? Ich glaube man muss sich diese Frage anders stellen. Wichtig ist nicht das Trauma an sich, wichtig ist, steht es mir heute noch im Weg, das Leben zu führen, dass ich führen will.

Testverfahren

Ab der Mitte des Lebens hat meines Erachtens jeder schon mal ein Trauma erlebt. Ob man deshalb gleich traumatisiert ist scheint eine andere Sache zu sein. Man kann sich zum Beispiel am ICD 10 ausrichten, ein Manual für Mediziner, die einen Kriterienkatalog zusammengestellt haben, was „erfüllt“ sein muss, um offiziell traumatisiert zu sein. Bzw. unter einer posttraumatischen Belastungsstörung zu leiden.  Es gibt auf dieser Seite einen Link zu einem PTBS-Test, den Sie gerne einmal durchführen können. Seien Sie sich jedoch bewusst, dass dieser Test relativ einfach strukturiert ist. Es gibt komplexere Fragebögen, die als Interviewform nur unter Begleitung durchgeführt werden. Diese sind etwas besser.

Allerdings habe ich Schwierigkeiten mit Tests. Ich denke ein standardisierter Fragebogen kann immer nur grob die Symptome aufzeichnen. Er kann aber nie die vielfältige Verknüpfung zum Beispiel zum Körper und den Psychosomatischen Erkrankungen sichtbar machen. Und er kann auch nicht die Entstehung eines frühkindlichen Traumas erfassen. Dazu ist er einfach noch zu ungenau. Um aber mal eine Lanze für die Psychologischen Testverfahren zu brechen muss gesagt werden, dass die Psychotherapie immer noch eine sehr junge Wissenschaft ist. Und gerade in den letzten Zeiten kam es zu großartigen Entwicklungen in der Hirnforschung, wenn wir also alle noch 30 Jahre warten, dann sind auch die diagnostischen Mittel deutlich ausgereifter und die Sicht auf die Psyche des Menschen wird sich deutlich verändern.

Was machen wir so lange?

Solange man nicht mehr in der Hand hat verlassen wir uns auf die Beschreibungen, die jeder subjektiv mitbringt. Auch daran kann ich erkennen, ob jemand traumatisiert ist oder nicht. Ein großer Teil der Menschen mit denen ich arbeite ist sozusagen traumatisiert aber leidet nicht unter einer PTBS (posttraumatischen Belastungsstörung). In so einer Situation hat sich der Mensch einen Weg gesucht mit den Herausforderungen mehr oder minder erfolgreich umzugehen.

Ein Beispiel:

Vor mir sitzt ein gut situierter Mensch, der beruflich großen Erfolg genießt, der aber ein sehr subjektives Gefühl hat von: „Irgendetwas stimmt mit mir nicht“. Es gibt viele kleine Baustellen, die er sich gerne anschauen möchte. Berufliche Beziehung, private Auseinandersetzungen, alltägliche Belastungen. Dazu kommt eine Reihe von körperlichen Symptomen: Migräne, regelmäßige Schmerzen, immer öfter auftretende emotionale Entgleisungen. Klar, nun könnte man sagen, so was nennt man „mid-life-crisis“ und ihn ziehen lassen. Man kann es sich aber auch genauer anschauen und einen bewussten und achtsamen Umgang mit sich selbst herstellen. Wir leben ja nicht umsonst in einer Welt in der psychische Erkrankungen immer größer werden und die gefühlten Belastungen sich immer weiter verstärken.

Wichtig ist mir in diesem Falle das Gefühl: „Irgendetwas stimmt mit mir nicht“. Es gibt mir keinen Hinweis darauf, ob dieser Mensch traumatisiert ist oder nicht, es hat aber die größte Komplexität. Also würde ich die Gefühle dahinter genauer betrachten. Angst? Angst vor der Angst? Alte Erwartungen? Alte Rollenmuster? Und langsam aber sicher kristallisiert sich das eigentliche Thema heraus. Natürlich hat es meist etwas mit der eigenen Prägung zu tun. Und an dieser Stelle wiederholt gesagt: Es geht mir nicht darum Schuld am Ursprung allen Übels zu verteilen. Es geht mir darum, die „Ursprungswunde“ zu erkennen, den Ursprungskonflikt, und diesen ins Bewusstsein zu heben.

Fühlte sich jemand in seiner Kindheit oft vernachlässigt, weil zum Beispiel beide Eltern immer mit dem Kopf voran im Beruf steckten, dann ist die erlebte Vernachlässigung die „Ursprungswunde“. Diese gilt es herausfühlen zu lernen. Um dann einen bewussten Umgang mit Situationen zu lernen, die dieses Gefühl antriggern. Denn ein Mensch funktioniert als Kind immer so, dass es den Schmerz (in diesem Beispiel der Vernachlässigung) vermeiden möchte. Aber das funktioniert eben nicht das ganze Leben lang. Irgendwann kommt man an den Punkt, wo die alten Abwehrmechanismen nicht mehr greifen. Dann setzen oft psychosomatische Beschwerden ein, oder sich immer wiederholende Konflikte, oder Verhaltensweisen, die man eigentlich nicht so gerne hat. Z. B. vermehrtes trinken, rauchen, essen.

Ist man dann traumatisiert?

Ja! Aber man leidet nicht unter einer PTBS.

Die Traumatherapie heutzutage sagt nur eine PTBS hat Behandlungsbedarf. Dem bin ich mir nicht so sicher. Ich möchte an dieser Stelle jedoch betonen, dass ich in den o. g. Beispiel und den Prozessen, die ich hier begleite selten eine Pathologie, eine Krankheit sehe. Ich sehe eher, dass Menschen sich die größte Mühe gegeben haben, alles was sie je erlebt haben zu verarbeiten. Und sie haben es immer so gut verarbeitet, wie sie es eben zu dem Zeitpunkt der Verletzung konnten. Für mich ist das Thema Trauma und Traumatherapie ein wesentlich komplexeres Thema. Denn der gesellschaftliche Einfluss der zum Traumazeitpunkt herrschte ist oft wesentlich, es ein Trauma werden zu lassen. Dazu mehr in folgendem Blog: Bindungstrauma.

Die ressourcenorientierte Traumatherapie hat einen einen Ansatz, den ich in der Behandlung von Traumatas in der Kindheit und ihren Folgen sehr gut finde. Die eigenen Ressourcen zu sehen, egal ob Materielle Ressourcen, Kognitive Ressourcen oder soziale Ressourcen. Sich die Anerkennung zu geben für alles, was man im Umgang mit der Traumatisierung schon getan hat, halte ich für unabdingbar. Denn ist man traumatisiert, geht der Weg der Verbesserung meines Erachtens über die Integration des Traumatas. Ich möchte das Wort Heilung nicht nutzen. Denn Heilung bedeutet man würde das Trauma ungeschehen machen. Und das geht nicht, wenn man traumatisiert ist.

Was könnte die Lösung sein?

Die Traumatisierung zu akzeptieren, sich bewusst zu machen wo sie entstanden ist. Darauf aufbauend zu erkennen, wo das Trauma überall im Alltag immer noch mitschwingt. Und dann der Mensch werden, der man werden soll. Traumatisiert oder nicht.

In diesem Sinne

Herzlich

Christini Hönig