Ich fühle nichts mehr

ich fühle nichts mehr
„Ich fühle nichts mehr“ ist ein Satz, den ich häufiger zu hören bekomme in meiner Arbeit.

Oft wird dies mit einer Depression gleichgesetzt und einem flacheren emotionalen Zustand. Aber auch in der Traumatherapie ist solch ein Zustand oft zu finden. Gefühle, die mal überwältigend waren ( z. B. frühkindliche Bindungsstörung), können abgespalten werden, um nicht mehr zugänglich zu sein. Dieser Zustand ist nur scheinbar sicher. Im Grunde genommen ist das Gegenteil der Fall. Gefühle, die nicht mehr wahrnehmbar sind, stellen die Gefahr dar, seine Umgebung nicht mehr richtig wahrnehmen zu können. Man beschneidet sich eines wichtigen inneren Barometers, das zur Orientierung ungemein wichtig ist.

Vor lauter Angst, Gefühle könnten erneut schmerzhaft sein, oder Unruhe mit sich bringen sagt man eben manchmal: „Ich fühle nichts mehr.“

Das bringt einen schnell zum Körper. Werden Gefühle unterdrückt, dann muss sich die gespeicherte Energie irgendwo einen Weg bahnen. Und das tut sie gerne im Körper. Je nachdem in welchem System diese Energie Platz nimmt entstehen die unterschiedlichsten Symptome. Von Verspannungen bis hin zu ernsthaft manifestierten Erkrankungen kann hier alles entstehen. In welche Richtung die Symptome tendieren ist abhängig von der Konstitution eines Menschen.  Mehr dazu lesen Sie gerne in Trauma und Körper.

Der Satz „ich fühle nichts mehr“ ist also eigentlich nicht als solches zu verstehen. Es müsste eher heißen. „ich drücke meine Gefühle weg“ oder „Ich will das nie wieder fühlen“.

Wie ich bereits im Blog Umgang mit Gefühlen geschrieben habe, wollen Gefühle eigentlich nichts anderes als Gefühlt werden. Zugegebenermaßen sind die abgespaltenen Gefühle selten schön. Sonst wären sie ja nicht abgespalten worden. Aber man kann sich über zwei Dinge sicher sein. Der Körper und die Seele geben nur solchen Zugang zum Innenleben eines Menschen preis, die dieser auch verkraften kann. Und das was man dann erneut fühlt ist immer nur eine Erinnerung an das, was tatsächlich war.

Ich weiß, dass diese Hinweise oft hinken. Denn auch so sind Gefühle, die lange unter der Ablage: „Ich fühle nichts mehr“ gelaufen sind, oft  kaum zum aushalten. Aber eben nur kaum. Das ist oft viel zu nehmen und manchmal läuft es nicht kontrolliert und Stückchenweise ab, sondern bricht einfach durch. Manchmal ist der Druck so groß, dass selbst die beste Vorbereitung nichts mehr hilft und man dann das Gefühl hat, wieder in alte Zustände zu geraten.

Aber meiner Meinung nach ist die Spaltung zu „Ich fühle nichts mehr“ kein guter Berater.

Denn ein Mensch besteht aus mehreren Ebenen der Wahrnehmung, die alle dazu dienen, sich besser orientieren zu können. Und dazugehören auch die Gefühle.

„Ich fühle nichts mehr“ beschneidet einen in seinem Selbst und sollte daher so sanft wie möglich aufgelöst werden.

Herzlich

Christini Hönig